Die Kraft der Schwesternschaft

von Mayonah A.Bliss

(Vortrag gehalten am Frauenkongress 1.10.2011)

 

Was ist Schwesternschaft? Schwesternschaft ist für mich die Grundlage für das Erblühen einer neuen Kultur. Die Matrix, auf der ein neues Miteinander basierend auf weiblichen Prinzipien gelebt werden kann. Schwesternschaft heißt Verbundenheit unter Frauen.

 

Anteilnahme und Solidarität unter Frauen. Im Geist der Schwesternschaft besinne ich mich darauf, daß wir Frauen alle Teil einer kollektiven Geschichte sind, daß wir alle das gleiche Erbe in uns tragen – denselben Schmerzkörper kennen, diesselben Sehnsüchte, dasselbe weibliche Potential, das Erblühen mag.

 

Im Geist der Schwesternschaft erkenne ich gleichzeitig die Einzigartigkeit einer jeden an, die besonderen Qualitäten und Gaben, die spezielle Schönheit und Strahlkraft einer jeden. Es gibt kein Grund zum Vergleich, Neid oder Konkurrenz. Wenn jede in ihrer Kraft erblüht, braucht es keine Konkurrenz. Ich kann mich an der anderen erfreuen, sie als Bereicherung oder Ergänzung sehen. Wie Blumen auf einer Blumenwiese. Jede blüht für sich und gemeinsam sind sie ein wunderschönes Blütenmeer. Schwesternschaft heißt für mich, die andere in ihrer Größe und in ihrem Potential zu sehen und darin im Wachsen zu unterstützen.

 

Das kann auch mal bedeuten, sie unbequem in ihren Schatten zu spiegeln. Oder in ihrer Stärke herauszufordern oder Illusionen zu zerschneiden oder Impulse zu setzen. Schwesternschaft heißt für mich, die andere als Spiegel meiner selbst zu sehen, als eine Facette meiner Weiblichkeit. Es heißt, voneinander zu lernen, mal Wegweisende, mal Lernende zu sein. Schwesternschaft heißt für mich zu verstehen, daß viele persönliche Themen eigentlich kollektive Themen sind – und darum am leichtesten gemeinsam weiterbewegt und transformiert werden können. Wenn wir im Geist der Schwesternschaft zusammenkommen, wenn das Feld der Schwesternschaft entsteht, dann... ...kann das wie ein großes Transformationschakra wirken, durch das kollektiver Frauenschmerz erlöst werden kann ...kann das wie ein Geburtskanal wirken, durch das die Kraft der Göttin durchkommt, in allen zum Leuchten kommt ...und es entsteht das Gefühl von einem tiefen Ankommen, im Heimathafen zu sein, ein Pool, der jede nährt und stärkt. Das Erfüllen einer Sehnsucht, die jede in sich trägt..nach tiefer Verbundenheit...

 

Es ist das Ankommen in dem, was eigentlich natürlich ist, was unsere Natur ist – der Zustand, tief verbunden zu sein. Was ist Jetzt? Fühlen wir uns Verbunden? Oder getrennt? Was ist da miteinander – persönlich und kollektiv? Sind wir kollektiv fühlbar eher verbunden oder getrennt? Wie fühlt sich das Getrenntsein an? Was steckt in dem Getrenntsein? Ich glaube, in jedem Getrenntsein steckt ein Schmerz – und dahinter die Sehnsucht nach tiefem Verbundensein. Warum leben wir oft noch in diesem Zustand des Getrenntseins?

 

Ich glaube, daß bezüglich der Schwesternschaft verschiedene Ebenen hineinspielen:

 

1.Persönlich – spirituelle Ebene

 

Je weiter ich von mir selbst entfernt bin, umso weiter bin ich auch von der anderen entfernt. Je näher ich mir, der Quelle in mir bin, umso näher bin ich der anderen. Denn in Wahrheit sind wir eins...verbunden...Ein Sein. Bin ich aber nicht verbunden mit der Quelle, dann entsteht leicht ein Gefühl des Mangels. Und im Gefühl des Mangels kann die andere schnell zur Konkurrentin werden, die mir etwas wegnehmen könnte. Solange ich meine eigenen Qualitäten und Gaben nicht ins Blühen gebracht habe, kann die andere als Bedrohung wirken. Oder aber mein Neid fällt auf sie, weil sie etwas verwirklicht hat, was ich selbst gerne verwirklichen würde. Dann wird Neid und Konkurrenz zu einem Alarmzeichen:

nämlich ein Zeichen dafür, daß ich aus der Verbindung mit der Quelle gefallen bin. Als ein Zeichen, daß ich mir nicht treu geblieben bin – und als ein Wegweiser, der mich erinnert, was sich in mir wachleben will!

 

2.Persönlich – biographische Ebene bezüglich meiner Beziehung zur eigenen Mutter

 

Solange die Liebe zur eigenen Mutter nicht erlöst ist, nicht frei fließen kann, wird es mir schwerfallen, mich mit der anderen Frau als Schwester verbunden zu fühlen. In der Art, wie ich andere Frauen sehe und fühle, spiegelt sich meine Beziehung zur Mutter wieder. War die Mutter übermächtig, werde ich die andere als Bedrohung empfinden.

 

Hat die Mutter mir nicht die Nahrung und Liebe gegeben, die ich brauchte, werde ich nicht glauben, daß die andere Frau sie mir geben könnte. Mich einer anderen Frau als Schwester zu öffnen würde bedeuten, mich dem Schmerz in mir zu öffnen, der noch in meiner Verbindung zur Mutter liegt. Und genau das ist auch die Chance und Möglichkeit in der Schwesternschaft: Die Verletzungen in der weiblichen Linie zu heilen. Eine Schwesternschaft kann die Heilung der weiblichen Linie unterstützen. Und umgekehrt: Je mehr es mir gelingt, die Liebe, die Verbindungen in der eigenen Linie zu heilen, umso mehr kann ich die andere als Schwester sehen.

 

Die Verbindung zur Schwester ist der Spiegel meiner eigenen Weiblichkeit. Ein Spiegel der eigenen inneren Angebundenheit zur eigenen Weiblichkeit.

 

3.Kollektiv – geschichtliche Ebene

 

Ich mache einen Sprung in die Geschichte. Es gab eine Zeit vor dem Patriarchat, in dem wir in matriarchalen Strukturen zuhause waren. Wir lebten in weiblichen Zusammenhängen, einige von uns waren in Frauentempeln und Frauengemeinschaften zuhaus. Was die Frauen verband war die Verehrung der Göttin, die Verbindung zur Großen Mutter. Sie sahen sich als gemeinsame Hüterinnen dieser Erde, waren im Dienst für die Erde und aller ihrer Lebewesen. Sie waren Mütter, Heilerinnen, Priesterinnen, Seherinnen, Musikerinnen, Tänzerinnen, Bäuerinnen, Geliebte,...Sie waren sich einander Schwestern und in der Verbindung und Ergänzung miteinandr kreierten sie ein großes Kraftfeld, das Kraftfeld der Göttin.

 

Die Zeiten wandelten sich. Es kam die Zeit des Übergangs vom Matriarchat zum Patriarchat. In dieser Zeit wurde seitens patriarchaler Strömungen viel Gewalt angewandt, um die noch bestehenden matriarchalen Strukturen zu zerstören. Äußerlich wie innerlich. Die Frauentempel, weibliche Heiligtümer wurden zerstört, die Frauengemeinschaften zersprengt. Frauen in Besitz genommen. Vergewaltigt oder unter dem Deckmantel der Ehe an die Seite eines Mannes gestellt – um dem Mann zu dienen. Der Mann stellte sich als der neue Gott der Frauen dar, um den sich von nun an die Aufmerksamkeit, Liebe und Verehrung der Frau kreisen sollte.

 

Nicht mehr um die Göttin, die Liebe, das Leben selbst! Und es gab auch eine Strömung im Feld der matriarchalen Frauengemeinschaften, die sich eine andere Verbindung zum Mann ersehnten. Bis dahin waren Männer Geliebte, Väter und Söhne – aber nicht wirklich Partner der Frauen. Es entwickelte sich ein Sehnen nach dem Mann als Gegenüber, als Partner...Aus dieser Sehnsucht verließen einige Frauen die Frauentempel, die weiblichen Zusammenhänge, verließen ihre Schwestern, um mit einem Mann zu sein... Es entstand ein Bruch, eine Trennung unter der Frauen. Die, die blieben, spürten den Schmerz des Verrats der Schwesternschaft. Die, die gingen, spürten den Schmerz, ihre Schwestern zu verlassen, um der stärker werdenden Sehnsucht zu folgen.

 

Auf beiden Seiten war Schmerz, war Trennung...der Verlust der Frauengemeinschaft...die langsame Auflösung des Göttinnenkraftfeldes..der Untergang einer Kultur, deren Basis, deren Matrix die Schwesternschaft war. Ich kenne diesen Schmerz. Ich war auf der Seite derer, die in den Tempeln blieb. Und vielleicht kennt ihr auch den Schmerz, auf der einen oder anderen Seite... Ich glaube, daß dieser Schmerz der Trennung voneinander, von der anderen als Schwester tief in uns eingegraben liegt. Im Alltagsbewußtsein so oft nicht spürbar. Aber sich offenbarend, wenn wir tiefer fühlen... Und ich glaube, dahinter liegt die Sehnsucht, uns wieder zu verbinden und das Kraftfeld, das dann entsteht wieder herzustellen. Es ist meine Sehnsucht.

 

Und vielleicht teilen sie einige mit mir... Heute ist eine neue Zeit. Es geht für mich nicht um die Rückkehr zu den alten Frauentempeln. Aber um eine Wiederherstellung des Kraftfeldes unter Frauen, das der Erde dient und in dem die Liebe sich ausbreiten kann. Und das in keinem Widerspruch zum Mann, zur Verbindung zum Mann steht. Es gibt kein Entweder-Oder mehr! Heute ist die Zeit der Verbindung. Die Zeit, da wir Frauen uns wieder der Göttin zuwenden, der Quelle in allem Sein, der Liebe selbst – sie in uns wiederentdecken, zum Erwachen und Erblühen bringen – miteinander!

 

Und darin den Männern als gleichwertige Gegenüber begegnen können. In diesem Sinne ist der Frauenkongress eine Vorbereitung auf eine entstehende partnerschaftliche Kultur. Und jeder Frauentempel ein Ort der Erinnerung, der Verbindung mit altem Wissen, ein Ort der Heilung und Transformation unseres Schmerzkörpers – um dann gestärkt und genährt aus dem Frauenkreis dem Mann begegnen zu können.

 

Wie entsteht Schwesternschaft?

 

Sie entsteht in dem Maß... ...wie ich meine Wunden der Mutterliebe heile, die Wunden einer verletzen Weiblichkeit heile. ...wie ich tiefer zur Quelle in mir finde und meine ureigenste Schönheit und Kraft zur Entfaltung bringe. ...wie ich nicht mehr den Mann als Glücks- und Liebesgarant aufsuche, sondern mich der Quelle der Liebe selbst zuwende. ...wie ich Trennungen in mir auflöse. Und dies ist immer auch eine Entscheidung. Wir haben die Wahl! Ob wir in Verbundenheit leben wollen oder uns dieser natürlichen Seinsweise widersetzen – meist aus unbewußten Mustern heraus.

 

Wir haben die Wahl, ob ich die andere als Schwester sehen möchte oder an meinem Bild der Konkurrentin festhalte. Was mich darin unterstützen kann, ist ein gefühlter Erfahrungsraum. Die andere als Schwester zu fühlen. Dies geschieht in dem Maße, wie ich bereit bin, mich zu zeigen, in allem, was ich bin: in meinen Ängsten, meinem Mißtrauen, auch in meiner Konkurrenz – wie auch in meiner Liebe, meiner Größe, meiner vollen Kraft. Wo ich mich in meiner Wahrheit zeige, entsteht Vertrauen. Wo ich mich offenbare, kann Berührung entstehen. Und wenn ich die andere wirklich sehe, werde ich spüren, daß wir uns näher sind, als zuvor gedacht. Daß durch uns alle das Eine Sein webt, daß wir im Grunde immer schon verbunden sind...